Der Fremde

Eine Kolumne von Julia Kohli

«Hast du die Haustür abgeschlossen?», frage ich meinen Freund oft, wenn er am Abend noch schnell im Tankstellenshop war. «Nein», ist die übliche Antwort, worauf ich gerne eine sarkastische Bemerkung mache, etwa, ob er im Teletubbies-Land aufgewachsen sei. Es war schon dunkel, als wir eine französische Krimiserie schauten, Schauplatz war irgendein einsames Bergdorf, wo der Wahnsinn hinter jeder Ecke lauert und ein trotteliger Polizist aus der Hauptstadt sich durch Schnee und Eisregen kämpft, einem Psychopathen – oder einem Waldgeist? – auf der Spur. Wir fläzten auf dem Sofa und assen Chips. Gemütlicher geht’s nicht. Dann öffnete jemand die Haustür. Ich richtete mich blitzschnell auf, wie so ein Erdmännchen, mein Puls raste. Ein Riese mit grauem Samichlaus-Bart schlurfte in Adiletten Richtung Badezimmer. Weil mir nichts anderes einfiel, krächzte ich: «Äh … hallo?» Der Mann hielt inne und starrte uns an, sein Blick wanderte langsam über die Einrichtung. Wie lächerlich ist das bitte, dachte ich, wir werden beim Krimischauen ermordet. Drei quälende Sekunden vergingen, bis die Worte «Ui! Falsche Wohnung!» fielen und sich der Eindringling ohne Entschuldigung aus dem Staub machte. Es dauerte eine Weile, bis unsere Schockstarre einem Lachanfall wich und schliesslich in eine Tirade meinerseits mündete. Die Moral der Geschichte? Mein Freund schliesst die Haustür immer noch nicht ab.


Julia Kohli, geboren 1978 in Winterthur, schreibt u.a. für die NZZ am Sonntag. Ihr Debütroman «Böse Delphine» (Lenos, 2019) wurde mit dem Studer/Ganz-Preis ausgezeichnet. 2024 erschien ihr neuer Roman «Das Leben ist die grösstmögliche Ruhestörung» im Lenos-Verlag. Julia Kohli wohnt in Zürich.

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    Julia Kohli
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    Grafilu
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